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17/12/2013

Territorialherrschaft

Der Begriff T. meint die Ausübung der öffentl. Gewalt in einem bestimmten Bezirk, also eine Form der Herrschaft, die sich auf den Raum, nicht auf die Personen bezieht und als Frühform und Voraussetzung der Staatsbildung gilt. T. ist kein Quellenbegriff; er wird in der Forschung in Konkurrenz zu Landesherrschaft, Landeshoheit, Obrigkeitsstaat und Territorialstaat verwendet und bezeichnet die Übergangsform von der mittelalterlichen, auf asymmetrischen persönl. Beziehungen beruhenden Herrschaft (Personenverbandsstaat) zum frühneuzeitl., institutionellen Flächenstaat.

Die Ausbildung der T. vollzog sich in einem vom 13. Jh. bis in die frühe Neuzeit dauernden Prozess der Konzentration und Assimilation von Herrschaftsrechten unterschiedl. Art und Provenienz bei einer Adelsdynastie oder Stadt, einem Bischof oder Kloster sowie durch den Erwerb von Territorium und verlief je nach Startzeitpunkt, Widerständen und Rahmenbedingungen unterschiedlich. Im Konkurrenzkampf zwischen adeligen, geistl. und städt. Akteuren errangen jene entscheidende Vorteile, die auf dem Weg zur Reichsfreiheit oder Reichsunmittelbarkeit zuerst in den Genuss kaiserl. Privilegien und landgräfl. Rechte - wie etwa Mannschaftsrecht, Steuerrecht, Hochgerichtsbarkeit - gelangten. Dadurch versuchten die werdenden T.en zu verhindern, ihrerseits unter die T. eines Nachbarn zu geraten.

T.en nutzten zu ihrer Ausdehnung und Vereinheitlichung u.a. das Hoch- und Niedergericht, das Mannschaftsrecht, die Ausburgerpolitik und die Burgrechte (Bern, Luzern, Solothurn, Zürich) bzw. die Landrechte (Schwyz, auch Appenzell, Glarus) oder die Intensivierung der Leibeigenschaft (Stadt Basel, Abtei St. Gallen) oder mehrere Herrschaftsrechte zugleich. T.en waren bestrebt, die unter versch. Vorzeichen - Erbe, Kauf, Pfandschaft, Kreditbeziehungen, militär. Eroberung, vertragl. Bindung (Schirmherrschaft, Burgrecht) - erworbenen Gebiete einer einheitl., räumlich gegliederten Verwaltung zu unterwerfen. Gestützt auf die Verwaltungstechniken der Offnung (Weistum, coutumes locales, ordini) und der Kundschaft wurden vorhandene oder behauptete Rechtsverhältnisse systematisch erhoben und verschriftlicht sowie in den zentralen Kanzleien meist von Juristen verarbeitet und vereinheitlicht. Zuerst begannen damit im 13. Jh. die Visconti als Hzg. von Mailand und die Bf. von Mailand und Como im Tessin sowie die Gf. von Savoyen und Neuenburg, dann auch die Bf. von Lausanne und Sitten in der Westschweiz, gefolgt im 14. Jh. von den Habsburgern (Habsburg. Urbar 1303-07) und v.a. im 15. Jh. von den eidg. Städteorten und grossen Klöstern wie St. Gallen. Zur Ausübung der Herrschaft wurden besoldete und schriftkundige Vögte (Kastlan, châtelain; podestà; vicario) befristet eingesetzt (Vogteien).

Um ihre Ansprüche zu sichern und zu vereinheitlichen, forderte die T. von allen Untertanen den Gehorsamseid (Huldigung), etablierte einen gerichtl. Instanzenzug (Appellation) und erliess Mandate (Policeygesetze), die einen flächendeckenden Regelungsanspruch in immer mehr Lebensbereichen über alle in den Grenzen des Territoriums ansässigen Personen unabhängig von deren rechtl. Status durchsetzten. Diese Aktivitäten wurden über traditionelle Einnahmen (Abgaben, Zölle, Bussen) und neue, meist indirekte Steuern (Umgeld) finanziert und von der Verwaltung in Steuer- und Mannschaftsrödeln, Eid- und Policeybüchern dokumentiert.

Widerstand gegen die Ausbildung der T. leisteten adelige, geistl. oder (klein-)städt. Grundherren, die als unterlegene Konkurrenten auf ihren Herrschaftsrechten beharrten wie etwa die adeligen Berner Gerichtsherren im Twingherrenstreit von 1470. Ebenso verteidigten ländl. Kommunen ihre lokale Selbstverwaltung in zahlreichen Bauernrevolten (Ländliche Unruhen) und Sozialen Konflikten vom 15. Jh. bis zum Bauernkrieg von 1653. In einer früheren Phase gerieten aber auch sich ausbildende T.en miteinander in Konflikt, so im 14. und 15. Jh. die eidg. Orte mit den Habsburgern.

Wo die Reformation eingeführt wurde, erweiterte die T. ihren Zugriff nicht nur auf die Kirchengüter, sondern auch auf kirchl. und damit verbundene soziale (Armenfürsorge, Bildung), jurisdiktionelle (Ehe- und Sittengericht) und fiskal. (Zehnt) Bereiche. Im Hl. Röm. Reich bildete sich die T. auf der Ebene der einzelnen Reichsglieder aus, im Gebiet der Schweiz auf der Ebene der einzelnen Orte, wobei die Häufung städt. und das Vorhandensein ländl. T.en (Landsgemeindekantone) im europ. Vergleich besonders auffällt. Die Eidgenossenschaft als Ganzes bestand zwar aus einem räumlich zusammenhängenden Gebiet ihrer Mitglieder, blieb aber ein Bündnissystem weitgehend autonomer Orte bzw. Kantone, die ihre je eigene, aber keine gemeinsame eidg. T. aufbauten. In den von den eidg. Vögten verwalteten Gemeinen Herrschaften blieb die Vereinheitlichung zur T. hinter derjenigen in den Territorien der einzelnen Orte zurück.


Literatur
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– P. Blickle, «Friede und Verfassung», in Innerschweiz und frühe Eidgenossenschaft 1, 1990, 13-202
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– P. Robinson, Die Fürstabtei St. Gallen und ihr Territorium 1463-1529, 1995
– E. Schubert, Fürstl. Herrschaft und Territorium im späten MA, 1996, v.a. 51-61
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Berns grosse Zeit, hg. von E.J. Beer et al., 1999, 330-365
– M. Stercken, «Reichsstadt, eidg. Ort, städt. T.», in A Comparative Study of Thirty City-State Cultures, hg. von M.H. Hansen, 2000, 321-342
La donation de 999 et l'histoire médiévale de l'ancien Evêché de Bâle, hg. von J.-C. Rebetez, 2002, 213-240
Berns mächtige Zeit, hg. von A. Holenstein et al., 2006, 76-108
– B.K. Studer Immenhauser, Verwaltung zwischen Innovation und Tradition, 2006
– S. Teuscher, Erzähltes Recht, 2007
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Autorin/Autor: Andreas Würgler