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20/05/2010

Konfessioneller Friede

Die Eidgenossenschaft besteht nicht nur aus versch. Sprachregionen, sondern seit der Reformation zugleich aus zwei grossen Konfessionsteilen (Katholizismus, Protestantismus). Ein wichtiger Schritt auf dem Weg zum modernen Staat war der Friede unter den konfessionell geprägten Kräften der eidg. Politik.

In diese Richtung zielten bereits die Landfriedensbünde von 1529-1712. Sowohl in den einzelnen Kantonen als auch in der Eidgenossenschaft etablierte sich die Konfessionelle Parität, und es bildeten sich bis im 18. Jh. Formen Religiöser Toleranz heraus. In der Verfassung der Helvet. Republik (Art. 6) von 1798 wurde erstmals die religiöse Freiheit gewährleistet. Nach dem Sonderbundskrieg von 1847 (Sonderbund) erhielt die Kultusfreiheit mit der Bundesverfassung von 1848 ausdrückl. Schutz, freilich nur für die "anerkannten christl. Konfessionen" und unter Vorbehalt geeigneter Massnahmen zur "Handhabung der öffentl. Ordnung und des Friedens unter den Konfessionen" (Art. 44, ähnlich Art. 50, Abs. 2 aBV 1874). Hauptziel jener Bestimmung war noch nicht das Individualrecht der Glaubensfreiheit, sondern der Friede zwischen den grossen christl. Konfessionen. Entsprechend lässt sich die Bundesverfassung von 1848 als Abschluss einer Zeit religiöser Auseinandersetzungen sehen, deren Nachzügler der Kulturkampf sein sollte. Weil dessen Ende mit der Ausarbeitung der Bundesverfassung von 1874 zusammenfiel, trugen auch die Religionsartikel in der Bundesverfassung von 1874 noch Züge einer Friedensordnung (Ausnahmeartikel). Hinzu kam jetzt die Gewährleistung der individuellen Glaubens- und Gewissensfreiheit (Religionsfreiheit, Art. 49, Abs. 1 aBV). Mitentscheidend für die Nachhaltigkeit des K.ns war der Beitrag weitsichtiger Persönlichkeiten zur Integration des Landes. So hatte Guillaume-Henri Dufour als General der eidg. Truppen 1847 den siegreichen Kampf gegen den Sonderbund massvoll geführt. Nach der Bundesstaatsgründung 1848 engagierten sich kath.-konservative Politiker wie Philipp Anton von Segesser für die Einbindung der im Sonderbundskrieg unterlegenen Kräfte in das neue Staatswesen. Hinzu kam, dass der Bundesstaat den Katholiken die Möglichkeit bot, in den konservativen Kantonen polit. Verantwortung zu übernehmen. Ihr Aufstieg zu ökonom. Einfluss sollte aber noch Jahrzehnte dauern. Der Polizeivorbehalt zur Einschränkung der Religionsfreiheit fand weitgehend unverändert Eingang in die Bundesverfassung von 1999 (Art. 72, Abs. 2).

Die Erhaltung des K.ns im 20. Jh. ist allerdings nicht auf solche "Notstandsbestimmungen" zurückzuführen, sondern auf die Religionsfreiheit mit ihren Konkretisierungen der Parität und der religiösen Neutralität. Als Parität gilt hier die materielle, positive Gleichbehandlung der hist. Volkskirchen, soweit nicht Besonderheiten eine Differenzierung rechtfertigen. Demgegenüber markiert die religiöse Neutralität des Staates den Übergang wichtiger Bereiche der Rechtsordnung von den Kirchen an den Staat (z.B. des öffentl. Schulunterrichts, der Beurkundung des Zivilstands oder des Bestattungswesens, Art. 27, Abs. 2-4, Art. 53, Art. 54, Abs. 1-2 aBV) aufgrund der fortgeschrittenen Säkularisierung. Zum K.n hat schliesslich seit dem 2. Vatikanischen Konzil (1962-65) die zwischenkirchl. Ökumene beigetragen.

Angesichts der zunehmenden interkulturellen Durchmischung und laizist. Ausrichtung der Gesellschaft gewinnt die Weiterentwicklung des K.ns zu einem Frieden unter den Religionen an Bedeutung. Dabei werden versch. Bereiche tangiert, etwa das öffentl. Schulwesen (Kopftuchfrage), das Bau- und Raumplanungsrecht (Bewilligung von Minaretten) sowie das Friedhofswesen (Einrichten von speziellen Grabfeldern auf den staatl. Friedhöfen).


Literatur
– P. Saladin, Grundrechte im Wandel, 31982
– R. Pfister, Kirchengesch. der Schweiz 3, 1984
Quellenbuch zur neueren schweiz. Verfassungsgesch., 2 Bde., hg. von A. Kölz, 1992-96
– D. Kraus, Schweiz. Staatskirchenrecht, 1993
Muslime und schweiz. Rechtsordnung, hg. von R. Pahud de Mortanges, E. Tanner, 2002

Autorin/Autor: Christoph Winzeler