Die konfessionelle Spaltung Europas im 16. Jh. führte dazu, dass P. u.a. aus Frankreich, Italien, Deutschland, England, Ungarn und Spanien in die ref. Orte der Eidgenossenschaft gelangten. Die Refugianten, hauptsächlich Reformierte, aber auch Lutheraner und Anglikaner, durften in ihren Herkunftsländern ihren Glauben nicht ausüben und keine polit. Ämter übernehmen. Der unterschiedlich starke, aber während der ganzen frühen Neuzeit anhaltende Migrationsstrom zeichnete sich durch zwei lange Wellen aus: Die erste folgte auf die Reformation und die Bartholomäusnacht 1572 (erstes Refuge), die zweite wurde 1685 durch die Aufhebung des Edikts von Nantes und die dieser vorangegangenen Massnahmen ausgelöst (zweites oder sog. Grand Refuge).
Autorin/Autor: Danièle Tosato-Rigo / AHB
Die Emigration erreichte erstmals ein bedeutendes Ausmass, als Franzosen nach der Verbreitung antikath. Traktate in der sog. Placards-Affäre 1534 und dem darauf folgenden Umschwung in der Politik des Königs gegenüber den Protestanten ihr Land verliessen. Dazu kamen zahlreiche Italiener aus Lucca, Genua, Cremona und Mailand, die vor der 1542 wieder eingeführten Inquisition in die Schweiz flohen. Im 16. Jh. suchten einige Reformierte aus Spanien, darunter Marcos Pérez und der Bibelübersetzer Casiodoro de Reyna, in Basel Zuflucht. P. aus Deutschland liessen sich nach dem Erlass des Augsburger Interims 1548 auf bern. Gebiet nieder, brit. Gemeinschaften wurden in Genf durch John Knox sowie in Aarau und Vevey während der Regierungszeit Maria Tudors (1553-58) gegründet.
In der Westschweiz, wo mehrere Bereiche der Textilindustrie nicht zünftisch organisiert waren und die Einführung der Reformation eine starke Nachfrage nach französischsprachigen Predigern hervorrief, zeigten sich die Gem. den P.n gegenüber offen. Unter dem Einfluss Johannes Calvins nahm Genf trotz mancher Widerstände zwischen 1549 und 1587 nahezu 8'000 P. als Habitanten auf. Davon sollen sich rund 3'000 dauerhaft niedergelassen haben, was einem Anteil von 30% an der Genfer Bevölkerung entsprach. Unter den Niedergelassenen befanden sich u.a. die Burlamaqui, Diodati, Micheli und Calandrini aus Lucca. Dutzende hugenott. Drucker machten die Stadt zum Verlagszentrum für Hugenottenbibeln und -psalter. Die Berner Obrigkeit veranlasste die Waadtländer Gem. zu einer Öffnung des Bürgerrechts und gewährte den Refugianten Stipendien an der Akad. Lausanne. In Zürich, wo zu den P.n aus dem Veltlin und Graubünden jene der ref. Gemeinschaft von Locarno hinzukamen, kritisierten die mächtigen Zünfte die Aufnahmepolitik der Behörden heftig, weil sie die Konkurrenz der hugenott. Unternehmer im Textilsektor fürchteten. Das Gleiche geschah in Basel, weshalb die wenigen ins Bürgerrecht aufgenommenen Fam., so die Bernoulli, Legrand und Sarasin, auf Tätigkeiten auswichen, welche die Alteingesessenen nicht ausübten. Sie engagierten sich, wie auch die Orelli in Zürich, z.B. in der Seidenweberei (Seide) und im Grosshandel.
Autorin/Autor: Danièle Tosato-Rigo / AHB
Nach dem Dreissigjährigen Krieg und erneut ab den 1660er Jahren kam es als Reaktion auf die Massnahmen Ludwigs XIV. gegen die Hugenotten zu einigen kleineren Migrationswellen. Die Aufhebung des Edikts von Nantes am 18.10.1685 bewog schliesslich ungefähr 150'000 Hugenotten, Frankreich zu verlassen. Die Zahl jener, die auf ihrer Flucht die Schweiz durchquerten, wird auf 60'000 geschätzt. Zu ihnen stiessen 1687, auf dem Höhepunkt des Zustroms, die Waldenser aus dem Piemont und 1703 etwa 3'000 P. aus dem von Ludwig XIV. besetzten Fürstentum Orange. Im 18. Jh. bewegte sich ein schwächerer, sporadisch auftretender Flüchtlingsstrom in Richtung Deutschland, der wahrscheinlich erst 1787 mit dem Toleranzedikt Ludwigs XVI. versiegte und über den noch wenig bekannt ist. Zeitweise verdoppelten, verdreifachten oder verzehnfachten die Hugenotten die Wohnbevölkerung in den Dörfern und Städten entlang der Transitachsen.
Die zwischen Solidarität und Ablehnung schwankenden ref. Stände sahen den massiven Zustrom voraus und einigten sich kurz vor der Widerrufung des Edikts von Nantes auf einen Verteilschlüssel, nach dem Bern 50% der bedürftigen Refugianten aufnehmen sollte, Zürich 30%, Basel 12% und Schaffhausen 8%. Dazu schufen sie eigene Institutionen, z.B. die Exulantenkammern. Gem. und Private wurden aufgefordert oder gezwungen, sich mit Unterkunft und Verpflegung an der Versorgung der Flüchtlinge zu beteiligen. Anders als in Ländern wie Brandenburg wurde die Anlegung von Flüchtlingskolonien abgelehnt. Dazu war die Wirtschaftslage am Ende des 17. Jh. zu schlecht und das Land zu klein. Ausserdem sollten die kath. Orte nicht brüskiert und Frankreich, das besonders auf Genf Druck ausübte, beschwichtigt werden. Nachdem die ref. Orte im Sept. 1693 an der Tagsatzung in Baden die Wegweisungspolitik festgelegt hatten, musste die Mehrheit der P. die Schweiz im Frühling 1699 in Richtung Deutschland verlassen (Grand départ).
Schätzungen gehen davon aus, dass sich rund 20'000 Hugenotten dauerhaft in der Schweiz niederliessen. Sie wurden nicht nur aus den offiziell angeführten religiösen, sondern auch aus wirtschaftl. Gründen aufgenommen: Hugenott. Manufakturbetriebe entsprachen merkantilist. Zielvorstellungen und beschäftigten zahlreiche Arbeiter, was der Obrigkeit im Kampf gegen die Armut gelegen kam. Ausserdem siedelten sich die meisten Refugianten im noch wenig industrialisierten Kt. Bern an. Die Berner Obrigkeit forderte die französischsprachigen Gem. auf, den P.n das Bürgerrecht zu erteilen, überliess es aber ihnen, Listen jener Personen zu erstellen, die sie behalten wollten. Diese Regelung führte zu einem bedeutenden Bevölkerungsanstieg im Waadtland. Zwischen 1680 und 1720 erhielten von den etwas mehr als 800 Familienoberhäuptern ca. 230 den Rechtsstatus eines Habitanten, ca. 400 jenen des Ewigen Einwohners, jedoch nur ca. 60 das von den Gem. selten gewährte volle Bürgerrecht. Die übrigen erlangten ein eigens für P. eingeführtes Bürgerrecht ohne polit. Rechte (bourgeoisie "assoufertée").
Rasch schufen die Hugenotten die Rahmenbedingungen für ein funktionierendes Gemeinschaftsleben, indem sie u.a. nach dem Vorbild der Konsistorien Hilfsfonds für ihre Bedürftigen einrichteten, sog. bourses françaises (auch directions françaises und corporations françaises genannt). Die Obrigkeit begrüsste das Vorgehen, weil sie dadurch von Fürsorge- und Kontrollaufgaben entlastet wurde. Finanziert aus öffentl. Spenden, Schenkungen, Legaten und Kirchenkollekten, boten die bourses françaises Überbrückungshilfe und medizin. Versorgung. Als eigentl. "Hugenottengemeinden" stellten sie im Fall Berns ihren Angehörigen auch Ehebewilligungen aus und erhoben ab 1755 Einzugsgelder. Die Hilfsfonds von Genf und Basel waren schon im 16. Jh. gegründet worden. An einigen Orten blieben die bourses, nicht ohne Kompetenzstreitigkeiten mit den Gemeindeinstanzen, bis ins 19. Jh. bestehen; jene von Yverdon existierte noch zu Beginn des 21. Jh. Die Lausanner bourse, die sowohl die Nachkommen der Hugenotten als auch die Neuankömmlinge des 18. Jh. aufnahm, zählte um 1750 rund 1'700 Mitglieder, während die Stadt etwa 8'000 Einwohner hatte.
Autorin/Autor: Danièle Tosato-Rigo / AHB
Die P. prägten die Geschichte des Protestantismus in der Schweiz nachhaltig, wobei einerseits herausragenden Persönlichkeiten wie Calvin und Theodor Beza, andererseits den dauerhaften Beziehungen zwischen den aufnehmenden Kirchen und der prot. Untergrundkirche Frankreichs, den Kirchen der Pfalz, Ungarns sowie weiterer ref. Minderheiten Europas grosses Gewicht zukam. Im Bereich der Wirtschaft trugen die P. des ersten Refuge, in Zürich z.B. die Orelli, zum Aufschwung des Textilexports bei. Sie führten in der Textilindustrie eine frühkapitalist. Organisation ein und bauten länderübergreifende Netzwerke auf, wofür exemplarisch die Karriere des aus Lucca geflohenen Francesco Turrettini an der Spitze der Grande Boutique der Genfer Seidenindustrie steht. Mit dem zweiten Refuge nahm die internat. Vernetzung noch zu. Die Fam. wurden zwar auf der Flucht auseinandergerissen, indem sie jedoch enge Beziehungen untereinander pflegten, schufen sie eine Art "hugenott. Internationale". Die schweiz. Indienneindustrie (Zeugdruck) verdankte ihren Erfolg zu einem grossen Teil persönl. Verbindungen zwischen Schweizer Bankiers hugenott. Herkunft und ihren in Frankreich verbliebenen Landsleuten oder P.n in anderen Ländern, die durch Eheschliessungen noch verstärkt wurden. Zudem erhöhten die Refugianten die Nachfrage nach Luxusgütern, was die Entwicklung handwerkl. Tätigkeiten anregte (Gold- und Silberschmiedekunst, Emailmalerei).
Die Hugenotten trugen entscheidend zur Verbreitung der franz. Kultur bei, die im 16. und 17. Jh. eine Blütezeit erlebte. In Bern, wo die hugenott. Gemeinschaft ab 1623 eine Kirche hatte, und Basel besuchte die lokale Elite deren Gottesdienst, um ihre Kenntnisse der franz. Sprache zu vervollkommnen. Streng kontrolliert von der lokalen Pfarrerschaft, entstanden in Aarau, St. Gallen, Schaffhausen, Winterthur und Zürich neue Franz. Kirchen. Die Kleidermode des franz. Adels und neue Erscheinungen wie Cafés und Boutiquen breiteten sich besonders in der Westschweiz aus. Mehrere Nachfahren von P.n gründeten Zeitungen und Zeitschriften, darunter die "Bibliothèque italique", oder gaben grössere Werke heraus wie die "Encyclopédie œconomique". Nach dem Vorbild von Firmin Abauzit oder Jean Barbeyrac wirkten sie als Kulturvermittler innerhalb der Gelehrtenrepublik. Im 18. Jh. vertraten sie ein rationales und liberales Christentum und stellten einen Viertel der Pfarrer in Genf. Es ist in allen diesen Fällen schwierig zu bestimmen, welcher Faktor für den Einfluss der P. ausschlaggebend war, ihre hugenott. Herkunft, ihre Nationalität oder der Zeitgeist.
Autorin/Autor: Danièle Tosato-Rigo / AHB
Die Geschichtsschreibung über die beiden Refuges begann mit Jules Michelet, der in der hugenott. Identität in Frankreich ein republikan. Modell ausmachte. In diesem Kontext legte Johann Kaspar Mörikofer mit seiner "Geschichte der evang. Flüchtlinge in der Schweiz" (1876) eine erste Synthese vor, deren hagiograf. Verklärung der Glaubensflüchtlinge, wie sie für die Historiografie des 19. und des beginnenden 20. Jh. typisch war, lange nachwirkte. Sie betont die Hilfsbereitschaft der Aufnahmeländer und stellt den Beitrag der P. zu deren Entwicklung in den Vordergrund. In der Nachkriegszeit wurde das Ereignis allmählich entmystifiziert. Einen wichtigen Beitrag leistete dazu Walter Bodmer. Er untersuchte den Einfluss der P. auf die protoindustrielle Entwicklung der Schweiz und stiess dabei auf asylpolit. Massnahmen, die stark von wirtschaftl. Überlegungen bestimmt waren. Er zeigte auch auf, dass die Unternehmen der Refugianten zahlreiche Hindernisse und Rückschläge zu überwinden hatten. Damit legte er den Grundstein für spätere Studien, die besonders durch die Gedenkfeiern zum 300. Jahrestag der Widerrufung des Edikts von Nantes angeregt wurden. In deren Gefolge wurde 1986 die Schweiz. Gesellschaft für Hugenottengeschichte gegründet, die eine Quellen- und Studiensammlung herausgibt. Diese Forschungen präzisierten versch. Aspekte. So wurde die Führungsrolle der P. in der lokalen Wirtschaft relativiert, die manchmal schwierigen Kontakte der Refugianten zur Bevölkerung der Aufnahmeländer untersucht und die der Realpolitik verpflichtete Haltung der Obrigkeit beleuchtet. Sie stellten überdies den ausschliesslich konfessionellen Charakter der Migration in Frage. Studienobjekt ist nicht mehr das durch den Glauben geeinte Refuge, sondern eine Migration, die durch zahlreiche Brüche gekennzeichnet ist und alle Züge einer Diaspora aufweist.
Autorin/Autor: Danièle Tosato-Rigo / AHB
Autorin/Autor: Danièle Tosato-Rigo / AHB