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03/11/2011

Nuntiatur

N. ist die Bezeichnung für das päpstl. Gesandtschaftswesen (Diplomatie), das im Laufe des 16. Jh. in Europa entstanden ist. Der päpstl. Gesandte im Rang eines Bischofs, Nuntius genannt, übt eine Doppelfunktion aus. Als diplomat. Vertreter des Heiligen Stuhls verschafft er der röm. Kurie Informationen zu seinem Gastland und erhält von Rom Instruktionen. In seiner kirchl. Funktion vermittelt er zwischen Bischöfen, Klerus und Kurie, informiert den Hl. Stuhl über die kath. Kirche seines Gastlands und überprüft bei den Bischofswahlen und -ernennungen die Tauglichkeit der Kandidaten.

Die zu Beginn des 16. Jh. in die Eidgenossenschaft entsandten Nuntien waren mit polit. Aufgaben wie Militärkapitulationen und der Anwerbung von Söldnern betraut. Nach dem Konzil von Trient wurden sie in den Dienst der Gegenreformation und der Katholischen Reform gestellt und übten z.T. quasibischöfl. Funktionen aus. 1586 wurde auf Wunsch der Fünf Orte (Uri, Schwyz, Unterwalden, Luzern und Zug) in Luzern, dem kath. Vorort, die ständige N. errichtet, die mit Unterbrechungen bis 1873 dort blieb. Nach der franz. Botschaft in Solothurn war sie die zweitälteste ständige Gesandtschaft in der Schweiz. Eine Besonderheit dieser diplomat. Beziehung war der Umstand, dass die Eidgenossenschaft beim Hl. Stuhl keine ständige diplomat. Mission errichtet hatte. Erst ab 1991 liess sie sich durch den Botschafter in Prag in Sondermission vertreten. Er wurde 2004 zum regulären Botschafter ernannt. Wegen Differenzen mit dem kath. Vorort residierte die N. 1725-30 in Altdorf (UR) und 1835-43 in Schwyz. Sie umfasste die kath. Kantone der Eidgenossenschaft und deren Untertanengebiete, die Drei Bünde (einschliesslich Veltlin, Bormio und Chiavenna), das Wallis sowie die gesamten Gebiete der Diözesen Basel, Chur, Konstanz, Lausanne und Sitten, folglich auch das Oberelsass, süddt. Gebiete sowie Teile Vorarlbergs und Tirols. Nach dem Westfäl. Frieden lockerten sich die Beziehungen zu den ausserschweiz. Gebieten zusehends. Ab 1803 war der Nuntius auch bei den konfessionell gemischten, ab 1816 auch bei den ref. Kantonen akkreditiert. Die N. umfasst seither nur noch die Schweiz.

1798 wurde der Nuntius von den Franzosen und der Helvet. Regierung ausgewiesen. 1803 erfolgte die Wiedererrichtung der N. Nach 1815 war die Diözesanregelung eines der Hauptgeschäfte, ab 1830 belasteten die Spannungen zwischen der Kirche und einzelnen liberalen Kantonen (Klosteraufhebungen) die Beziehungen stark. Im neuen Bundesstaat liess sich der Hl. Stuhl ab 1848 nur noch durch Geschäftsträger vertreten, die vom übrigen diplomat. Korps isoliert waren. Der Aufforderung der Gesandten Frankreichs und Österreichs, die N. solle nach Bern übersiedeln, kam der Geschäftsträger 1864 nicht nach, weil dies seiner Ansicht nach eine Anerkennung der neuen Bundesverfassung bedeutet hätte. Die Verurteilung des Kulturkampfs in der Schweiz durch Pius IX. führte am 12.12.1873 zum Abbruch der ohnehin getrübten diplomat. Beziehungen und zur Aufhebung der Luzerner N. Am 12.2.1874 verliess der Geschäftsträger die Schweiz.

Auf Initiative von Bundesrat Giuseppe Motta stimmte der Bundesrat im Juni 1920 trotz Widerstands aus ref. Kreisen der Wiederaufnahme von diplomat. Beziehungen zum Hl. Stuhl zu. Am 8.11.1920 übernahm der bisherige offiziöse Geschäftsträger Luigi Maglione als Nuntius in Bern die Geschäfte. Wie vom Wiener Kongress 1815 vorgesehen, trat der Nuntius 1923 das Amt eines Doyen des diplomat. Korps an, nachdem der franz. Botschafter darauf verzichtet hatte. Dieses Vorrecht wurde ihm aber erst 1953 vom Bundesrat de jure zugestanden. Die Besuche des Nuntius bei Kantonsregierungen boten 1924 Anlass zu Kontroversen. Fortan beschränkte er sein Wirken auf den innerkath. Raum, wobei ab 1970 auch diese Tätigkeit Anlass zu Kritik bot, u.a. wegen umstrittener Bischofsernennungen im Bistum Chur.

 Tabelle: 
Päpstliche Nuntien in der Schweiz seit 1500



Literatur
HS I/1
– R. Schaller, Die Normalisierung der völkerrechtl. Beziehungen zwischen der Schweiz und dem Hl. Stuhl, 1974
– C. Altermatt, «Die Beziehungen der Schweiz zum Vatikan nach der Wiedererrichtung der N. im Jahre 1920», in Schweizer Katholizismus zwischen den Weltkriegen 1920-1940, 1994, 331-342
– V. Conzemius, «Die N. im neuen Bundesstaat», in ZSK 88, 1994, 49-74
– U. Fink, Die Luzerner N. 1586-1873, 1997
Histoire religieuse de la Suisse, hg. von G. Bedouelle, F. Walter, 2000, 195-217, 363-385, 395-402

Autorin/Autor: Pierre Surchat