Im weiten Sinn wird der Begriff der "Freikirche" in der dt. Sprache auf sämtliche prot. Kirchen angewandt, die staatsunabhängig sind und deren Mitglieder ihre Zugehörigkeit ausdrücklich bekräftigen müssen. Hier geht es jedoch ausschliesslich um jene Kirchen, die sich im 19. Jh. aufgrund theol. und polit. Entwicklungen in der Westschweiz zeitweilig (Waadt) oder dauernd (Genf, Neuenburg) vom Staat getrennt haben.
Die Loslösung prot. Kirchen vom Staat ist nicht einlinig erklärbar. Pietist. Erbe und möglicherweise Einflüsse des Methodismus haben in der französischsprachigen Schweiz eine breite Erweckungsbewegung, den sog. Réveil, ausgelöst. In ihm verbinden sich Bekenntnisbereitschaft und Betonung des individuellen Glaubenslebens zu einer sozial und missionarisch ausgerichteten Frömmigkeit, die zu Staatskirchentum und religiöser Indifferenz zunehmend in Gegensatz geraten und separatist. Tendenzen annehmen kann. Der Zusammenstoss des Réveil mit den politisch radikalen Umwälzungen, die das Staatskirchentum konsequent zu demokratisieren trachteten, führte zu Trennungen unterschiedl. Ausprägung und Konsequenz.
In Genf wandten sich ab 1810 verschiedene erweckliche Aufbrüche (u.a. Ami Bost, César Malan), z.T. durch ausländ. Einflüsse inspiriert (Robert Haldane), gegen ein rationalistisches, klerikal geprägtes Christentum. Das Reglement der Pfarrerschaft von 1817, das den Geistlichen Stillhalten in dogmatisch umstrittenen Fragen auferlegte, löste separatist. Bewegungen aus. 1817 gründeten Erweckungsfreunde die Eglise du Bourg-de-Four (ab 1839 de la Pélisserie). 1823 entstand unter Führung des von der Landeskirche seines Amts enthobenen Malan die Eglise du Témoignage. Eine dritte freikirchl. Gruppe, die 1831 von Pfarrer Louis Gaussen gegründete landeskirchl. Evangelische Gesellschaft, rief 1832 in Konkurrenz zur Akademie die Ecole de théologie (auch Faculté de l'Oratoire) ins Leben und war 1849 an der Gründung der Eglise évangélique libre de Genève (Freie evang. Kirche von Genf) beteiligt. Diese ist staatsfrei und gehört dem Schweizerischen Evangelischen Kirchenbund an.
In der Waadt kam es, vorbereitet durch innerkirchliche erweckliche Aufbrüche, nach der Beseitigung des verbindl. Bekenntnisses durch das Kirchengesetz von 1839 und der Indienstnahme der Kanzeln zu polit. Zwecken 1845 durch die radikale Regierung unter Henri Druey zur Demission nahezu der Hälfte aller Waadtländer Pfarrer und 1847 zur formellen Gründung der sich als landeskirchlich verstehenden Eglise évangélique libre du Canton de Vaud (Freie evang. Kirche des Kt. Waadt). Sie entwickelte sich grösstenteils parallel und in Konkurrenz zur Eglise nationale. 1965 erfolgte die formelle Wiedervereinigung beider Kirchen zur Eglise évangélique réformée du Canton de Vaud (Evang.-Ref. Kirche des Kt. Waadt) und die Aufhebung der Parallelität kirchl. Einrichtungen.
In Neuenburg wurden nach der Revolution 1848 die Strukturen der bisher streng klerikal geführten ref. Kirche demokratisiert. Weiter gehende Tendenzen zur Verstaatlichung unter dem Einfluss des theol. Liberalismus führten 1873 zur knappen Annahme eines Kirchengesetzes, dessen staatskirchl. Ausrichtung zum Protest vieler Kirchgemeinden und zur Gründung der Eglise évangélique neuchâteloise indépendante de l'Etat (Freie evang. Kirche von Neuenburg) führte. Auch hier verdoppelten sich die meisten kirchl. Strukturen. Unter Beibehaltung der weitgehenden Trennung zwischen Kirche und Staat kam es 1943 zur Wiedervereinigung in der Eglise réformée évangélique du Canton de Neuchâtel (Evang.-Ref. Kirche des Kt. Neuenburg).
Die Freie Evang. Gemeinde der Stadt Bern, ursprünglich französischsprachig, geht auf das Jahr 1829 zurück.
Literatur
Autorin/Autor: Marc van Wijnkoop Lüthi